Beziehungsmodelle und die Beziehungs-Rolltreppe
Vermutlich hast du den Begriff „Beziehungsrolltreppe“ noch nie gehört. Aber du weißt ganz sicher schon, was es ist. Denn die Beziehungsrolltreppe bezeichnet die Vorstellung von Beziehung, die in unserer Kultur als „normal“ angesehen wird.
Vielleicht hast du in einer Beziehung schon einmal selbst die Frage gestellt: „Wo geht das mit uns hin?“ Vielleicht lebst du in ständiger Angst davor, genau das gefragt zu werden. Oder du kennst folgende Situation: Du hast jemanden kennengelernt. Wenn du deinen Freund*innen oder deiner Familie davon erzählst, fragen sie dich: „Und, ist das was Ernstes?“
Ist meine Beziehung „was Ernstes“?
Dass diese Fragen so geläufig sind, zeigt, dass es ein gesellschaftliches Verständnis darüber gibt, was eine „richtige“ Beziehung ausmacht. Dieses Verständnis speist sich aus Vorstellungen, Normen und Erwartungen, darüber, wie sich eine Beziehung entwickeln sollte. Die Journalistin Amy Gahran bezeichnet dieses gesellschaftliche Idealbild als „Relationship Escalator” (Beziehungsrolltreppe). Die Beziehungsrolltreppe ist ein soziales Skript: im Grunde eine Art Drehbuch, das wir alle kennen und dem die meisten von uns zunächst unhinterfragt folgen. Dass das Wort Drehbuch uns dabei an Hollywood denken lässt, ist kein Zufall: die meisten Liebesfilme zeigen nämlich genau dieses Skript.
Die Beziehungsrolltreppe verläuft ungefähr so:
Man trifft sich und fängt an auf Dates zu gehen. Man lernt sich kennen.
Der Kontakt und die Gefühle intensivieren sich. (Meist) fängt man an miteinander Sex zu haben.
Die Beziehung wird offiziell monogam. Das heißt, emotional und sexuell exklusiv. Man beginnt sich als “Paar” zu beschreiben und tritt als solches im sozialen Umfeld auf.
Man macht langfristige Pläne und bespricht die gemeinsame Zukunft. Man lernt die Familie des Partners oder der Partnerin¹ kennen. Häufig wird die romantische Beziehung zur Priorität, andere Beziehungen, wie Freundschaften, treten in den Hintergrund.
Man zieht zusammen, führt ein gemeinsames Konto, hat gemeinsame Haustiere. Davor oder danach verlobt man sich.
Es wird geheiratet und man bekommt eventuell Kinder, kauft ein gemeinsames Haus oder Ähnliches. The end.
Wenn du eine Beziehung jenseits der “klassischen” Beziehungsrolltreppe führen möchtest und dir bei der Ausgestaltung professionelle Begleitung wünschst, dann kannst du hier eine kostenlose Erstberatung mit einem unserer Coaches vereinbaren.
Warum eine Rolltreppe?
Die Rolltreppe ist aus mehreren Gründen ein sehr passendes Bild, denn eine Rolltreppe …
läuft automatisch. Die gesellschaftliche Norm besagt, dass diese Phasen einer Beziehung unweigerlich und sozusagen von selbst aufeinander folgen (sollten).
bewegt sich nur in eine Richtung: nach oben. Es ist nicht vorgesehen, dass Paare sich auch “rückwärts” bewegen können.
folgt geradlinig einem vorbestimmten Weg. Auch das Überspringen von Phasen sowie verschlungene oder eigene Wege sind nicht vorgesehen.
suggeriert Hierarchie. Jede Position ist höher(wertig) als die vorherige. Die Beziehung „eskaliert“ (daher auch „escalator“), d. h. ihre Intensität und gesellschaftliche Anerkennung steigt.
Was ist das Problem?
Grundsätzlich ist diese Abfolge von Phasen kein Problem. Für viele Menschen funktioniert das Rolltreppen-Modell wunderbar und sie sind damit glücklich. Schwierig ist allerdings, dass die Rolltreppe als selbstverständlich gilt und sozial erwünscht ist. Das heißt, eine Beziehung wird gesellschaftlich oft nur dann als legitim betrachtet, wenn sie diese Phasen durchläuft. Dadurch fühlen sich Menschen, die sich in diesem Skript nicht wiederfinden, häufig ungesehen, „falsch“ oder ausgeschlossen.
Zudem hinterfragen wir in den meisten Fällen nicht, ob wir überhaupt auf der Rolltreppe sein wollen. Zu oft wird dieses Idealbild einfach auf die eigene Beziehung übertragen, ohne sich selbst oder den Partner zu fragen, ob das eigentlich den individuellen Bedürfnissen und Wünschen entspricht.
So passiert es, dass Leute sich fälschlicherweise für „beziehungsunfähig“ halten oder so bezeichnet werden. Manche von ihnen haben aber gar keine Angst vor einer engen Bindung per se, sondern nur vor einzelnen Elementen, die — wie sie denken — zwingend Teil einer solchen Bindung sein müssen. Vermeintliche Regeln, wie „Man muss irgendwann zusammenziehen“ oder „Man muss alles immer gemeinsam machen“ schrecken sie ab und sie schlussfolgern daraus, dass romantische Beziehungen nichts für sie sind.
Reflexion statt Rolltreppe
In Wirklichkeit können romantische Beziehungen aber sehr unterschiedlich aussehen und eigene Regeln haben. Eine solch bewusste Gestaltung der Beziehung erfordert viel Reflexion und Kommunikation, sowie leider auch ein gewisses Maß an Widerstandskraft gegen die häufig skeptischen oder ablehnenden Reaktionen aus dem Umfeld. Dennoch: Diese Arbeit lohnt sich. Eine selbstbestimmte und intentionale Entscheidung für ein Beziehungsmodell, egal ob Rolltreppe oder nicht, stärkt die Beziehung und unser Wohlbefinden darin.
Von der Rolltreppe runterzugehen, kann zum Beispiel heißen:
langfristig zusammen zu sein, aber nicht zusammenzuziehen
nicht monogam zu leben, sondern eine offene oder polyamore Beziehung zu führen
von einer Ehe zum Co-Parenting überzugehen
wieder auseinander zu ziehen, ohne sich zu trennen
den Lebensfokus auf etwas anderes als eine romantische Paarbeziehung zu legen
Der Weg bestimmt den Wert der Beziehung
Ein kritischer Umgang mit dem Rolltreppen-Modell bedeutet auch, dass wir anerkennen können, dass Beziehungen nicht „gescheitert“ sind, nur weil wir mit ihnen nicht das obere Ende der Rolltreppe erreicht haben.
Wert und Qualität einer Beziehung sind dann nicht dadurch definiert, ob vorbestimmte Ziele absolviert wurden. Stattdessen richtet sich unser Blick auf den Beziehungsweg an sich. So kann eine kurze Romanze genauso lehrreich und wertvoll sein, wie eine lange Ehe. Unser gesellschaftliches Rolltreppen-Skript suggeriert eine Hierarchie, die auf sichtbaren Meilensteinen aufbaut, anstatt auf innerem Wachstum. Hier eine neue Perspektive einzunehmen, ermöglicht mehr Wertschätzung für uns und unsere Beziehungen.
¹ Im Sinne der besseren Lesbarkeit wird die männliche oder weibliche Form gewählt. Fühl dich unabhängig davon bitte angesprochen, wo es dich betrifft.